Verloren im Reich der Saligen …

… Von da an trieb eine unstillbare Sehnsucht den heranwachsenden Jungen stets nach den Höhen der Berge. Er wurde im Laufe der Zeit ein mutiger Bergsteiger und verwegener Schütze, der die unzugänglichsten Felsen und Hänge erklomm und mit sicherem Schuss die flüchtigen Gemsen erlegte. Ein geheimnisvoller Trieb zog ihn immer wieder in die Gegend der Mohrin. Dort, auf einer eis- und schneebedeckten Felsplatte über der Mohrin, gab es Gemsen in Scharen, so erzählte das Volk, auch Steinböcke sollten dort noch hausen, aber kein Jäger könne dorthin gelangen. Den wagemutigen Knaben ließ dieses Märchen nicht ruhen, er wollte das Abenteuer angehen und kletterte eines Tages die steilen Wände hinan. Aber sein gefährliches Wagnis endete damit, dass er weder vorwärts noch rückwärts konnte, bis sein Fuß jeden Halt verlor und er aus schwindelnder Höhe in den Abgrund stürzte, wo er besinnungslos liegen blieb.
Als der Jäger wieder zu Bewusstsein kam, ruhte er, auf Speik und Edelweiß gebettet, im kristallenen Palast der drei saligen Fräulein, die ihm zum zweiten Mal das Leben gerettet hatten. Strahlend von himmlischem Liebreiz standen sie an seinem Lager, und ihr Anblick ließ ihn alle Wunden und Schmerzen vergessen und verlieh ihm ein wonniges Gefühl von Freude und Wohlsein. Drei Tage ließen sie ihm die vorzüglichste Pflege angedeihen; er durfte in allen Hallen und Räumen umhergehen und alle Wunder und Herrlichkeiten des Feenpalastes besehen und ihre Gärten und Tiere bewundern. Nach drei Tagen sagten sie ihm, nun könne er wieder zu seinen Eltern zurückkehren, nahmen ihm aber vor dem Verlassen ihres Wohnsitzes ein dreifaches Versprechen ab, das er einhalten müsse, wenn er sie je wiedersehen oder drunten im Tal glücklich sein wolle. Vor allem musste er geloben, zu niemandem ein Sterbenswörtchen davon zu sprechen, dass er die saligen Fräulein gesehen und bei ihnen im Berg gewesen sei. Sodann musste er schwören, nie ein Alpentier zu töten oder zu verfolgen, weder Gemse noch Alpenhase oder Schneehuhn. Das dritte war: keinem Sterblichen je den Weg zu weisen, der zu ihrem Palast führte und den sie ihm nun zeigen würden. Ein viertes Versprechen, nämlich den saligen Fräulein die Liebe und Ehrfurcht zu bewahren, die er ihnen im Berg stets erwiesen hatte, und keinem irdischen Mädchen in Liebe zugetan zu werden, verstand sich, wie die Saligen meinten, von selbst ohne Schwur und Gelöbnis.
Nachdem der Jäger sein Versprechen mit einem feierlichen Eid besiegelt hatte, nahmen sie zärtlich Abschied von ihm und brachten ihn zu einer abseits gelegenen Stelle ihres Reiches, wo sich eine gähnende Kluft auftat, die bis auf den Grund des Berges hinabreichte. Unten aber, wo die brausende Ache ihren Anfang nimmt, öffnete sich unter dichten Alpenrosenbüschen ein schmaler Ausgang aus der Kluft ins Freie hinaus. Bevor sie ihn in den düsteren Schlund hinabließen, sagten sie ihm noch, dass er sie in jeder Vollmondnacht besuchen und drei Tage bei ihnen verweilen dürfe. Wenn er durch die Öffnung in die Schlucht getreten sei, brauche er ihnen nur ein bestimmtes Zeichen zu geben, und sie würden zur Stelle sein.
Als der Jüngling nach Hause kam, war er wie umgewandelt. Es war ihm, als hätte er geträumt, und wie in einem Traum gefangen, ging er umher. Bald nannte man ihn auch den Träumer; denn er zog sich von jedem fröhlichen Treiben der Jugend zurück, suchte keinen Tanzplatz mehr auf, keine Jagd konnte ihn reizen, unbenutzt hing sein Gewehr in der Kammer. Aber in jeder Vollmondnacht eilte er zur Felsenkluft unter der Mohrin hinauf und schlüpfte zwischen den blühenden Alpenrosen in die dunkle Öffnung hinein, die den Zugang zum Reich der saligen Fräulein bildete. Drei Tage war er der Gast der bezaubernden Frauen, deren lieblichen Gesang er verzückt stundenlang lauschte. Daheim aber schlich er müde und matt umher, seine bisher kräftige Gestalt verfiel, farblos und blass wurden seine blühenden Wangen. Wenn die Eltern und Freunde, die mit Schrecken diesen unerklärlichen Wandel bemerkten, in ihn drangen, er möge ihnen doch sagen, was ihm fehle, wehrte er ungeduldig ab und meinte, es fehle ihm nichts, er habe doch alles, was er brauche und wünsche, in Hülle und Fülle.
Mit der Zeit kamen die Eltern dahinter, dass er in jeder Vollmondnacht das Haus verließ und erst nach drei Tagen zurückkehrte. Da schlichen sie ihm einmal nach und kamen bis hart an den Eingang zum Reich der saligen Fräulein. Als die Mutter sah, wie ihr Sohn durch die dunkle Öffnung in das Berginnere hineinschlüpfen wollte, rief sie in beschwörendem Ton seinen Namen. Aber im selben Moment erklang ein donnerndes Krachen, Felsbrocken und Steingeröll fielen ringsum vom Berg herunter, und vor den Augen des entsetzten Jünglings rückten die Felsen zusammen und verschlossen den Eingang zur Stätte seiner Sehnsucht. Niemals fand er ihn wieder, so oft und so eifrig er auch danach suchte.
Trübsinnig und verschlossen ging der Unglückliche in seinem Heimatort umher, achtete weder auf die Tränen der Mutter noch auf das Schimpfen des Vaters, hörte auf keinen ermunternden Trost und wollte von keiner Zerstreuung wissen. Keine Arbeit konnte ihn locken, vor sich hin grübelnd, hing er nur seinen düsteren Gedanken nach und verfluchte sein unseliges Schicksal. Das dauerte den ganzen Sommer hindurch, bis der Herbst kam, die Herden ihre Almen verließen und wieder ihre Ställe in den Tälern aufsuchten.
Als aber der Winter über die Berge kam und der Saum seines Schneemantels schon bis an die Almen herabstreifte, kamen ein paar alte Freunde in das Haus des Hirtensohnes und begannen vom Wild zu erzählen und von den Freuden der Gebirgsjagd. Sie wollten einen Jagdgang zur Platte bei der Mohrin unternehmen und hofften, reiche Beute nach Hause zu bringen. Da leuchteten die Augen des jungen, blassen Schützen zum ersten Mal wieder, die Jagdleidenschaft, die bisher zurückgedämpft war, regte sich wieder. Vielleicht war es auch ein anderer Gedanke, der ihn antrieb, sich den Freunden anzuschließen. Er sollte hinaufgehen in jenes Gebiet, wo die saligen Fräulein lebten. Noch einmal wollte er versuchen, dort einzudringen, wohin es ihn mit allen Fasern seines Herzens zog, und ginge es auch auf Leben und Tod. Gelang sein Wagnis, so bedeutete das für ihn Leben und Glück, fand er aber den Tod, so war er von Qual und Herzeleid frei.
So brachte der Jüngling sein Jagdzeug in Ordnung, entlehnte sich ein Gewehr – denn das seine war damals zerschellt, als die Steintrümmer herabstürzten und das Felsentor vor seinen Augen verschwand – und schloss sich am frühen Morgen dem Pirschgang der anderen Wilderer an. Erst ging er mit ihnen, dann eilte er voraus, rascher und rascher, stieg höher, immer höher, wie von einer unwiderstehlichen Macht angezogen, und fand sich endlich allein im schroffen Felsengewirr der Ötztaler Berge. Es war ihm so leicht ums Herz wie schon lange nicht, die freie, frische Gebirgsluft ließ ihn aufatmen. Allzu lange wohl hatte die enge, dumpfe Luft des Tales seine Brust bedrückt. Da tauchte auch schon die erste Gemse vor seinen spähenden Blicken auf, aber mit einem Pfiff verschwand das wachsame Tier hinter dem Felsen, auf dem es gestanden. Den Grat erklimmend, sah der Jäger nicht weit unter sich, aber außer Schussweite, auf einer kleinen Matte ein starkes Rudel Gemsen. Nur eine war ihm ziemlich nahe, und diese zu erjagen, wandte er alle Kunst und Kraft auf. Von Fels zu Fels sich schwingend, jagte er dem flüchtigen Tier nach und verfolgte es unablässig, bis das geängstigte Tier nicht mehr weiter konnte und vor einem breiten Abgrund stillstand, den der Schütze in seinem Jagdeifer gar nicht bemerkt hatte. Mit freudiger Genugtuung, die Gemse nun endlich schussgerecht vor sich zu haben, legte er den Stutzen an – da erklang in der stillen Bergeinsamkeit ein Ton wie von einer klagenden Mädchenstimme. Aber der Jäger in seiner Leidenschaft hörte nichts, er zielte scharf, er schoss … Da strahlte plötzlich ein heller Lichtschein auf, und mitten in dem Glanz stand unverletzt die Gemse. Vor ihr aber schwebten in weißleuchtenden Gewändern die drei saligen Fräulein, ein wunderbarer Schimmer ging von ihnen aus. Mit strengen, finsteren Blicken kamen sie auf ihn zu. Und wie sie der Jüngling nun zum ersten Mal nicht mit gewinnender Huld und milder Güte im Gesicht wie bisher, sondern mit zürnender Miene erblickte, da erfasste ihn kaltrieselndes Grauen, er wankte zurück, die Hände zur Abwehr von sich streckend, tat noch einen Schritt – und stürzte mit einem dumpfen Aufschrei in die bodenlose Tiefe hinab, und loses Gestein und Geröll polterte dröhnend hinter ihm drein, den unseligen Schützen für immer unter sich begrabend.
